Wir als Anarchistische Gruppe Neukölln (AGN) sehen uns als Teil einer undogmatischen und antiautoritären Linken. Der Bezug zu Neukölln soll hierbei nicht in einem patriotischen, identitätsstiftenden Zusammenhang verstanden werden – uns eint überwiegend der Lebensraum Neukölln. Unser Ziel ist eine freie, eine anarchistische Gesellschaft, in der alle Menschen nach ihren Wünschen und Bedürfnissen leben können, wo, wie und mit wem sie wollen.
So wie es ist…
Wir leben im Kapitalismus. Das bedeutet, wir leben in einer Gesellschaft, die Reichtum, Macht und Ruhm als oberste Ziele ansieht. Dies beginnt schon im Kleinen, wenn etwa das einzige Lebensziel darin besteht, möglichst viel Geld zu verdienen, auf der Karriereleiter möglichst weit nach oben zu steigen, oder als Promi in jeder Zeitung aufzutauchen. Und es geht weiter, wenn Unternehmen alles dafür tun ihre Profite zu steigern, wenn Staaten alles versuchen um wirtschaftliche und politische Bedeutung zu erlangen und auszubauen, oder sogenannte Kulturkreise ihre Identität von Fremden bedroht sehen.
Diese Art des Zusammenlebens führt zwangsläufig zu dem Zustand, in dem wir uns heute befinden: Ein großer Teil der Menschheit lebt in Armut, weil dies die Voraussetzung dafür ist, dass der andere Teil in Wohlstand lebt und diesen immer weiter vergrößern kann. In vielen Teilen der Welt herrschen Kriege und gewaltsame Konflikte, weil dies notwendig wird, wenn Staaten, Religionen und Bevölkerungsgruppen von ihrer Überlegenheit überzeugt sind und diese durchsetzen wollen. Unzählige Tierarten sind bereits ausgerottet, in unzähligen Gebieten ist die Natur massiv zerstört, weil im Zweifelsfall Profit immer über Nachhaltigkeit gestellt wird. Überall auf der Welt werden Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer Sexualität und vieler anderer Faktoren diskriminiert, unterdrückt, verfolgt und ermordet, weil sie gegen moralische, politische oder soziale “Standards” verstoßen. Diese und die unzähligen anderen großen und kleinen Ungerechtigkeiten zeigen deutlich, dass diese Gesellschaft auf bestimmten Werten aufbaut: Konkurrenz, Ausbeutung, Unterdrückung.
Dies tritt natürlich nicht überall gleich stark und offensichtlich zu Tage. In Deutschland gibt es keine Bürgerkriege oder Hungersnöte, es herrscht ein vergleichsweise hoher Lebensstandard und es existiert ein vergleichsweise gutes Gesundheits- und Sozialsystem. Und natürlich wollen wir nicht leugnen, dass die hiesige, parlamentarische Demokratie nicht mit politischen oder religiösen Diktaturen oder autoritären Systemen vergleichbar ist, denn wir genießen durchaus Freiheiten, die viele andere Menschen nicht besitzen.
Dennoch wollen wir nicht bei einem achselzuckenden “Uns geht’s ja noch ganz gut” stehen bleiben. Zum einen besitzen wir diese Privilegien nur, weil wir zufällig am “richtigen” Ort, mit dem “richtigen” Pass und der “richtigen” Hautfarbe geboren sind. Zum anderen nur deshalb, weil – wie wir schon gesagt haben – es dafür viele andere Menschen gibt, die für diese Privilegien bezahlen. Mit ihrer Arbeitskraft, ihrem niedrigen Lebensstandard oder ihrem Leben.
Und diese Privilegien erscheinen bei näherer Betrachtung – und ohne ständige Vergleiche mit den Ärmsten und Unterdrücktesten – auch gar nicht so erstrebenswert. Denn auch hier werden Menschen ausgebeutet, damit andere höhere Profite erwirtschaften können. Auch hier werden Menschen diskriminiert, unterdrückt und ermordert, weil sie die falsche Hautfarbe, den falschen Pass, die falsche Sexualität, oder das falsche Geschlecht haben. Auch hier werden Menschen vom Staat überwacht, verfolgt und eingesperrt, weil sie andere Vorstellungen von ihrem (Zusammen-)Leben haben und aktiv dafür eintreten. Und auch hier herrschen bestimmte politische, soziale und wirtschaftliche Normen, deren Übertretung erschwert, unmöglich gemacht oder verfolgt wird.
Diese Überlegungen führen zu der Erkenntnis, dass wir eine vollkommen neue Art des Zusammenlebens brauchen. Ein Zusammenleben, in dem der Mensch mit seinen Bedürfnissen, Wünschen und Vorlieben im Mittelpunkt steht. Und damit meinen wir alle Menschen, denn “niemand kann frei sein, solange es nicht alle sind” (E. Mühsam). Und diese Überlegungen führen auch zu der Erkenntnis, dass ein solches Zusammenleben nur durch einen radikalen Bruch mit dem bestehenden System möglich ist. Dieser Bruch meint mehr, als “nur” eine Regierung zu stürzen, oder jedem Menschen ein wenig Essen und ein Dach über dem Kopf zu geben, auch wenn es ein guter Anfang wäre. Sondern es meint unser Leben und das, was wir darin und miteinander tun, vollkommen neu zu denken.
Im Hier und Jetzt hat unser Leben einen primären Zweck: Arbeiten und Konsumieren. Wir verbringen den größten Teil unseres Lebens mit Schule, Ausbildung und Studium, um einen möglichst guten Job zu ergattern, in dem wir dann – bestenfalls – einige Jahrzehnte arbeiten, um dann in einer mehr oder (meist) weniger guten Situation ein paar Jahre Rente zu kassieren bevor wir sterben. Alles, was darüber hinaus geht, ist ein Bonus, der erst verdient werden muss, ganz nach dem Motto “erst die Arbeit, dann das Vergnügen”. Und selbst diese Vergnügen sind im Vergleich meist nur Brotkrumen, die uns besänftigen und uns einen oberflächlichen Lebenssinn vorgaukeln. Wir drehen ein ganzes Jahr lang jeden Cent um, nur damit wir einige Tage woanders Urlaub machen können. Wir schuften jahrelang, um uns teuren Schnick-Schnack wie Autos, Fernseher, Handys, Möbel oder Schmuck zu kaufen, deren Wert keinen tieferen Sinn hat, außer Prestige und das Gefühl etwas erreicht zu haben. Oder wir kaufen ein Haus, für das wir unser Leben lang arbeiten müssen, nur damit es kurz vor unserem Tod endlich uns gehört. Die paar Stunden Freizeit, die wir neben der Arbeit haben, verbringen wir damit stumpfe Reality-Shows, Daily-Soaps oder Promimagazine zu sehen und voller Begeisterung mit zu fiebern, stundenlang durch Einkaufspassagen zu rennen oder sich am Wochenende mit Hilfe der verschiedensten Rauschmittel zumindest eine Weile aus der Realität zu flüchten, bevor in der nächsten Woche das Spiel von vorne losgeht. Und das nur im besten Fall, nämlich dann, wenn wir genügend verdienen um uns diese “Vergnügen” leisten zu können.
Gleichzeitig stumpfen wir menschlich immer weiter ab und vereinsamen mehr und mehr. Wir haben hunderte Freunde in Sozialen Netzwerken, aber niemanden den wir anrufen, wenn es uns schlecht geht. Wir leben in Wohnhäusern und wissen bis auf ihre Existenz nichts von unseren Nachbar*innen. Wir sitzen zu Dutzenden in öffentlichen Verkehrsmitteln, schweigen, vermeiden Augenkontakt und fühlen uns gestört, wenn jemand diese Friedhofsstille bricht. Wir sind jahrelang mit Menschen befreundet, von denen wir nur wissen auf wen sie gerade stehen, oder welche Klamotten, Frisuren und Popstars sie mögen. Oder wir gründen eine Familie und begnügen uns damit, unsere Freunde immer seltener zu sehen, bis der Kontakt schließlich auf Geburtstage oder ein, zwei familienfreie Tage im Monat geschrumpft ist und irgendwann abbricht.
…bleibt es nicht!
Dies sind nur einige Fetzen von dem, was uns am heutigen Zustand stört. Die Konsequenz aus dieser Unzufriedenheit kann folgerichtig nur bedeuten sich aktiv für eine Veränderung einzusetzen, was wir durch unsere Arbeit als Anarchistische Gruppe und darüber hinaus in vielen anderen Projekten tun. Wir sind davon überzeugt, dass der Mensch in der Lage sein kann, friedlich und rücksichtsvoll neben- und miteinander zu leben und das eine anarchistische Gesellschaft möglich ist. Dass bis dahin ein langer Prozess nötig sein wird, bestreiten wir gar nicht, aber schließlich geht es um nichts weniger als eine vollständige Überwindung der jetzigen Verhältnisse. Für viele mag das utopisch und naiv klingen, schließlich erscheint der Kapitalismus in all seinen Facetten alternativlos und der jetzige Zustand als etwas natürliches, das “eben schon immer so war”. Aber dieses System ist nichts Übernatürliches, das uns geschaffen hat, sondern eine bestimmte Form des menschlichen Zusammenlebens, das wir Menschen erschaffen haben und somit auch durch uns verändert werden kann.
Wie die Gesellschaft, die wir uns vorstellen, im Detail aussieht, können wir nicht sagen. Nicht weil wir keine Idee davon haben, im Gegenteil. Sondern weil wir glauben, dass kein fertiger Entwurf der Vielzahl von unterschiedlichen Bedürfnissen und Wünsche aller Menschen gerecht werden kann. Und weil auch wir natürlich Teil der heutigen Gesellschaft sind, dementsprechend aufwuchsen und sozialisiert wurden und somit auch in unserem Denken und unserer Vorstellungskraft immer noch in deren Grenzen verhaftet sind.
Was wir sicher sagen können sind einige Grundprinzipien, auf der eine Gesellschaft aufgebaut sein muss, damit sie unseren Vorstellungen entspricht:
Ganz allgemein sollen sich alle Menschen von unten nach oben organisieren, wobei soviel auf der niedrigsten Ebene entschieden wird wie möglich, nur von den Menschen die es betrifft und nach dem Konsensprinzip. Das meint ganz praktisch, dass sich bspw. alle Bewohner*innen eines Hauses zusammensetzen, wenn etwa Renovierungsarbeiten anstehen, die das gesamte Haus an sich betreffen und gemeinsam entscheiden was sie machen wollen und wie. Eine Entscheidung ist dabei nicht gefunden, sobald 51% der Bewohner*innen dafür sind, sondern wenn alle mit der Entscheidung leben können. “Damit leben können” meint hier nicht zwangsläufig totale Zustimmung – das wird bei vielen Fragen nicht möglich sein – sondern die Abwägung ob die eigenen Bedürfnisse ausreichend berücksichtigt wurden oder nicht bzw. ob einem das Thema persönlich wirklich so wichtig ist, um durch das Beharren auf der eigenen Meinung die Entscheidungsfindung zu erschweren. Das bedeutet allerdings nicht Dinge schlucken zu müssen. Falls jemand wirklich dagegen ist, wird solange weiter diskutiert bis eine Lösung gefunden wurde. Das klingt aus heutiger Sicht sehr aufwendig und zeitintensiv, was es im Zweifelsfall auch tatsächlich sein kann. Aber zum einen werden wir in einer befreiten Gesellschaft weit mehr Zeit haben (mehr dazu weiter unten), und zum anderen denken wir das eine Entscheidung, mit der alle zufrieden sind und bei der sich jede*r ernstgenommen fühlt, etwas mehr Aufwand rechtfertigt.
Wenn nun Entscheidungen anstehen, die alle Bewohner*innen einer Straße betreffen, besprechen die Bewohner*innen der einzelnen Häuser das Thema zunächst unter sich, bis sie eine gemeinsame Position zum Thema gefunden haben. Danach wählt jedes Haus einen oder mehrere Delegierte, die dann zusammenkommen und eine Entscheidung treffen. Dabei hat jede Person ein sogenanntes Imperatives Mandat. Das heißt, dass sie nur mitteilen, was vorher in ihrer Gruppe besprochen wurde und auch nur in diesem Rahmen Entscheidungen treffen bzw. diesen zustimmen können. Falls sich eine Entscheidung abzeichnet, gegen die sich die Gruppe zuvor ausgesprochen hat, oder Aspekte auftauchen über die noch nicht geredet wurde, kann die delegierte Person dies nicht eigenmächtig und über die anderen hinweg entscheiden, sondern muss den Stand zurück in die Gruppe tragen, woraufhin das Thema dort nochmal diskutiert wird.
Nach diesem Prinzip können weitergehend Entscheidungen getroffen werden, die alle Bewohner*innen eines Viertels, einer Stadt, bis hin zur ganzen Welt betreffen. Wie diese Prozesse – gerade auf großer, geografischer Ebene – genau ablaufen (oder in wie weit sie überhaupt notwendig sind) können wir nicht sagen. Das Internet könnte dafür eine Möglichkeit sein, aber das werden die Menschen entscheiden, wenn es soweit ist. Natürlich ist dieses Prinzip nicht auf den Wohnaspekt beschränkt. So können sich Menschen zusammenschließen, die den selben Park nutzen, die selbe Sportart betreiben, oder sonst irgendetwas teilen.
Ein wichtiger Aspekt ist natürlich die Herstellung von Lebensmitteln und Gütern, Dienstleistungen und die Infrastruktur wie bspw. Nahverkehr, Müllabfuhr oder Krankenhäuser. Denn auch wenn es ein gängiges Klischee gegenüber dem Anarchismus ist, wir wollen die Arbeit nicht abschaffen, sondern – wie alles andere – nur anders organisieren. Natürlich wollen wir weiterhin essen, wollen weiterhin mobil sein und uns nicht selbst verarzten müssen, wenn wir verletzt oder krank sind. Auch dass die Kanalisation funktioniert, der Müll sich nicht auf den Straßen stapelt und es fließendes Wasser und Strom gibt finden wir gut. Nur steht heutzutage jede Arbeit unter dem Schatten des Kapitalismus, ist also profit- und nicht bedarfsorientiert, mit allen daraus resultierenden Nachteilen: Überproduktion, Verschmutzung und vielerlei Schrott, für den die Nachfrage künstlich erzeugt wird.
In einer befreiten Gesellschaft würde erst einmal eine Vielzahl von Arbeit bzw. Berufen wegfallen. Militär und Sicherheitskräfte, Verwaltungsapparate, das ganze Bankwesen, Rüstungsindustrie… um nur einige zu nennen. Die ganze Produktion würde sich ändern, da es keine Profitinteressen oder Konkurrenzkämpfe mehr gibt. Das bedeutet, dass weit weniger produziert werden muss und dass es keiner Rationalisierungen mehr bedarf, also nicht immer weniger Menschen immer mehr Arbeit erledigen müssen. Das bedeutet, dass viel weniger Arbeit von viel mehr Menschen erledigt werden kann, was die notwendige Arbeit für jede_n Einzelne_n massiv reduziert. (So hat bspw. Darwin Dante, unter Verwendung heutiger Daten des Statistischen Bundesamts, errechnet, dass unter den genannten Voraussetzungen eine 5-Stunden Woche ausreichen würde und dabei der allgemeine Lebensstandard sogar noch steigt.)
Auch das Wesen der Arbeit würde sich ändern. Heute sind wir total von der Arbeit, die wir verrichten, entfremdet, weil wir sie als sinnlos erachten, immer nur den selben Miniarbeitsschritt am Fließband verrichten oder über lange Zeiträume zu unangenehmer, beschwerlicher oder belastender – und generell zur immer gleichen – Arbeit gezwungen sind. Arbeit in der freien Gesellschaft wäre auch freie Arbeit, also Arbeit, die wir persönlich als notwendig und sinnvoll erachten, eben weil wir davon konkret profitieren, ihre Notwendigkeit einsehen und insbesondere keinen Job ein Leben lang tun müssen. “Unangenehme” Arbeit, wie etwa die Müllabfuhr kann also soweit aufgeteilt werden, das jede*r nur wenige Stunden im Jahr damit verbringen muss. Eine solche Rotation kann in vielen Arbeitsbereichen eingesetzt werden. Natürlich kann und soll nicht jede*r alles machen, denn manche Spezialisierungen, die eine lange Ausbildung notwendig machen, haben durchaus ihre Berechtigung (z.B. Ärzt*innen), aber die meiste Arbeit kann sehr wohl von fast allen erledigt werden.
Diskussionsstand Juli 2013